36th Vilnius Jazz Festival. 12-16 October, 2022

Kulturelle Drehscheibe zwischen Ost und West

Bernd JAHNKE
 

Ein Festival kommt in die Jahre. Vilnius erlebte mittlerweile die 6. Auflage eines qualitativ hochwertigen Festivals. Die Probleme, eine solche Veranstaltung auf die Beine zu stellen, haben sich verschoben, sind indes jedoch keineswegs geringer geworden. Finanzielle Probleme sind in den vergangenen Jahren immer mehr in den Vordergrund getreten, doch mit Hilfe zahlungskraeftiger Sponsoren und auslaendischer Kulturinstitute konnte Festivalorganisator Antanas Gustys auch in diesem Jahr wieder ein anspruchsvolles und ausgewogenes Programm gestalten. Nach wie vor ist die Praesentation der litauischen Szene einer der Programmschwerpunkte. Es ist immer wieder verblueffend zu erleben, ueber welch kreatives Potential die Jazzszene dieses Dreimillionenvolkes verfuegt. Bekannte Musiker stellten sich in diesem Jahr durchweg mit neunen Projekten vor und es gab auch Neuentdeckungen zu machen wie etwa zum Festivalauftakt, als der gestandene Pianist und Keyboardspieler Oleg Molokoyedov ein neues Trio mit dem Posaunisten Vytautas Pilibavicius und dem Pianisten Arunas Slaustas vorstellte. Beiden Musikern, die litauische Szene in Zukunft fraglos bereichern werden, muss man bescheinigen, dass sie ueber hervorragende instrumentaltechnische und improvisatorische Faehigkeiten verfuegen und diese in ein mitunter von folkloristischen Themen getragenes Gruppenspiel einzubringen verstanden. An zwei speziell fuer das Festival zusammengestellten Projekten war der Gitarrist Juozas Milasius massgeblich beteiligt. Saxophonist Vytas Labutis, Milasius und Schlagzeuger (und Vokalist) Dalius Naujokaitis kennen sich seit geraumer Zeit aus der Zusammenarbeit in verschiedenen Gruppen, in dieser Besetzung standen sie in Vilnius erstmalig auf der Buehne und zelebrierten teilweise recht humorvoll frei improvisierte, hochenergetische Klaenge, die jedem New Yorker Noise-Music-Spezialisten zur Ehre gereicht haetten. Auch der frei improvisierte, hochintensive Dialog mit dem schwedischen Saxophonisten Dror Feiler gelang. Ebenfalls mit neuem Projekt stellte sich Vladimir Chekasin vor. Unterstuetzt von Oleg Molokoyedov und einem Elektronik-Spezialisten praesentierte er in gewohnter Weise eine witzige, von seinen musikalischen Faehigkeiten getragene Theatralik-Anti-Show. Fuer zwei Musiker, den Pianisten Vyacheslav Ganelin und den Schlagzeuger Arkadi Gotesman, bedeutete der Festivalauftritt zugleich ein Wiedersehen mit ihrer langjaehrigen Heimat. Gemeinsam mit Petras Vysniauskas kam es zur Neuauflage eines Trios, das durch die traumwandlerisch anmutende, niemals zur Routine erstarrende Kommunikationsfaehigkeit der drei Musiker untereinander faszinierte. Zuvor hatte Ganelin bereits als Solist ueberzeugt. Mit seinem exzellenten Pianospiel, gepaart mit sinnvollem Einsatz elektronischer Mittel, gelang ihm die Entwicklung vielschichtiger Klanglandschaften. Auch einige aus anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion nach Vilnius gekommene Musiker und Gruppen sorgten fuer Neuentdekkungen wie beispielsweise das estnische Weekend Guitar Trio, das mit seiner weitgehend komponierten, mitunter minimalistisch angelegten Musik, die den drei jungen Gitarristen gleichwohl improvisatorische Freiraeume liess, im Rahmen des Festivalprogramms eher die Ausnahme bildete. Eine weitere Entdeckung war der St. Petersburger Performer Roman Dubinnikov, der sowohl mit Pinsel und Farbe als auch mit diversen kleinen perkussiven Klangerzeugern, einem Schlagzeug sowie Sampling-Technik souveraen umzugehen und diese Komponenten zu einem schluessigen Gesamtkunstwerk zu vereinigen wusste. Unter dem Namen Russian-Ukrainian Jazz Project stellte sich ein seit knapp einem Jahr bestehendes Trio vor. Mit von Kompositionsfragmenten ausgehenden Improvisationen schufen die drei Musiker, unter denen Sergei Letov, der Begruender der Gruppe TriO am bekanntesten sein duerfte, bizarre, mit folkloristischen Motiven durchsetzte Klangbilder, abwechselnd im Trio, in verschiedenen Duo-Konstellationen oder auch solistisch, wobei die Musiker sowohl mit hohem instrumentaltechnischen Koennen als auch Kreativitaet ueberzeugen konnten. Abstrakte Strukturen, aus denen sich freie Improvisationen entwikkelten, brachte ein englisch-russisches Quartett zu Gehoer. Einmal mehr ohrenfaellig bei dieser Gruppe: der hohe instrumentaltechnische Ausbildungsstand der osteuropaeischen Musiker und ihre kreativen Faehigkeiten bei der Gestaltung musikalischer Prozesse. Westeuropa war in Vilnius durch drei Formationen aus Frankreich, Schweden und Deutschland vertreten. Bassistin Joelle Leandre und Saxophonist Daunik Lazro zelebrierten die Kunst des Duo-Spiels auf hoechstem Niveau. Die Faehigkeit beider, einander zuzuhoeren und aufeinander einzugehen, wirkte sich nachhaltig auf die sich durch hohe Sensibilitaet auszeichnenden Dialoge aus, wobei Joelle Leandre bei ihren ueberzeugenden Gesangseinlagen visuelle Akzente setzte, die den Auftritt des Duos bereicherten. Obwohl schon fast zwei Jahrzehnte in dieser Besetzung aktiv, muss das schwedische Trio Lokomotiv Konkret zu den Entdeckungen des Festivals gezaehlt werden. Frei improvisierte, von eigenstaendigen Ideen getragene Musik, die vor allem durch die Kompromisslosigkeit des kuenstlerischen Ausdrucks ueberzeugte - der Auftritt war allemal ein nachhaltiges Hoererlebnis. Auf Gestaltungsmittel des Free Jazz bezog sich auch das ausdrucksstarke Spiel des deutschen Quartetts Draft. Spielerfahrung und den Willen zum Aufbruch zu neuen musikalischen Ufern paarten die vier Musiker zu ueberzeugend dargebotener, richtungsweisender Improvisationsmusik.

Zwei Gruppen aus Uebersee vermochten beim Festival in ganz besonderer Weise zu ueberzeugen. Otomo Yoshihide und das Altered States Quartet aus Japan kreierten mit sichtbarer Lust am musikalischen Risiko und unter Einbeziehung zweier Gitarren, einer Bassgitarre und eines Schlagzeugs sowie Samplern und Turntables spannungsgeladene, rockig orientierte Improvisationsabenteuer. Das Wagnis gelang. Zu den grossen Kuenstlern zeitgenoessischer schwarzer Improvisationsmusik zaehlt ohne Frage der Saxophonist Roscoe Mitchell. Beim Festivalauftritt mit seiner aktuellen Quartettbesetzung bestaetigte er in beeindruckender Weise diesen Ruf. Er liess hoerbar werden, dass er die besten Traditionen des Free Jazz verinnerlicht und weiterentwickelt hat und diese Erfahrungen mit seiner Gruppe ueberzeugend umzusetzen versteht - Great Black Music vom Feinsten.

Vilnius im Herbst - drei Tage mit bedeutsamen musikalischen Eindruecken, das Festival wurde seinem Ruf, eines der wichtigsten Ereignisse fuer improvisierte Musik in Osteuropa und darueber hinaus zu sein, erneut gerecht. Die Bedeutung dieser Veranstaltung wird zunehmen, vor allem als kulturelle Drehscheibe zwischen Ost und West.

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